Memoiren - mehr als nur Erinnerungen

Hast Du schon darüber  nachgedacht deine Autobiografie oder deine Memoiren zu schreiben? Nein? Ich auch nicht! Aber ich habe diesen Prozess bei meiner Schwester miterlebt, die vor 3 Jahren damit begonnen hat und nun fast fertig ist.  Warum sie das gemacht hat, was dabei so interessant war und wie sich die Motivation während des Schreibens geändert hat, möchte ich euch heute berichten. Denn ich glaube, dass es für jeden interessant ist, das eigene Leben zu reflektieren, um daraus Klarheit und Kraft zu erfahren und es zu würdigen.

Take away

  • Selbstreflexion als Entwicklungsaufgabe im Alter.

  • Herausfinden, was im eigenen Leben wirklich zählt.

  • Weil man sich das Positive vor Augen führt und weniger Positives nun mit Abstand neu bewerten kann.

 
 

LEBENSRÜCKBLICK GEHÖRT ZU DEN WICHTIGSTEN AUFGABEN IM ALTER

Es gibt die verschiedensten Motivationen dafür, den Lebensrückblick niederzuschreiben. Viele Menschen wollen Erinnerungen und besondere Erlebnisse für ihre Nachkommen festhalten. Aber noch viel häufiger liegt die Motivation darin, sich an die schönen und/oder auch an die weniger schönen Zeiten zu erinnern und so ein neues Verständnis dafür zu schaffen oder damit abzuschließen. Wenn man das ehrlich und ohne Werturteil über sich und andere zu Papier bringt, merkt man schnell, wie gut man so manches bewältig hat und wie wunderbar sich manche Wendungen im Leben ergeben haben.

Das Memoirenschreiben ist inzwischen in der Altersforschung als identitätsstiftende und besonders sinnvolle Tätigkeit anerkannt. Es geht nicht um sentimentales Schwelgen in der Vergangenheit, sondern um Selbstreflexion als Entwicklungsaufgabe im Alter. In einer Dissertation zu diesem Thema heißt es: „Dieses autobiografische Erinnern hat eine besondere Wirkung auf das Wohlbefinden und kann als wesentliche Ressource zur Gestaltung des eignen Alters beitragen und zählt zu den bedeutendsten, sinnstiftenden Tätigkeiten im Alter.“  [i]

MEMOIREN ODER AUTOBIOGRAPHIE – ZWEI VERSCHIEDENE DINGE

Es gibt zwei Arten diesen Lebensrückblick zu gestalten. Wenn man von Autobiographie spricht, dann meint man einen Bericht über das Leben, chronologisch, detailliert, in dem Daten und Fakten eine wichtige Rolle spielen. Bei Memoiren geht es um einen Bericht aus dem Leben, also Erinnerungen über bestimmte Ereignisse oder Epochen, in denen das persönliche Erleben im Vordergrund steht. Das kann das Berufsleben sein, das Familienleben, das können Reiseerinnerungen oder einfach besondere Ereignisse sein.

ERFAHRUNGEN MIT DEM MEMOIREN SCHREIBEN

Meine Schwester Daya ist vor 50 Jahren der Liebe wegen von Österreich nach Japan gezogen, also zu einer Zeit, in der das noch mehr als ungewöhnlich war. Dementsprechend ungewöhnlich war auch ihr Leben zwischen zwei so unterschiedlichen Kulturen. Telefonieren war kaum möglich, Videochats wie heute waren unbekannt, also blieben nur Briefe um zu kommunizieren. Unsere Mutter hat alle Briefe von Daya gesammelt und so existieren über 1.000 handgeschriebene Briefe über ihr Leben in Japan! Vor 3 Jahren hat sie begonnen anhand dieser Briefe ihre Lebensgeschichte und vor allem auch den europäischen Hintergrund für ihre Kinder und Enkelkinder zusammenzufassen. Dass daraus mehr geworden ist und sie viele persönliche Erkenntnisse gewonnen hat, hat sie selbst überrascht.

Ich habe viele, lange Gespräche mit meiner Schwester dazu geführt und möchte euch das Wichtigste berichten.

Daya, was waren für dich die interessantesten Erkenntnisse durch das Schreiben deiner Memoiren?

Natürlich hat man eine Vorstellung davon, wer man eigentlich ist und weiß, was im Leben bedeutsam war. Aber beim Memoirenschreiben muss man notgedrungen eine Auswahl treffen. Das Gewicht, das ich manchen Erinnerungen gab - wohingegen ich andere als unwichtig beiseite geschoben habe - zeigte mir deutlich, was mir ganz persönlich von größter Bedeutsamkeit erschien. Was in meinem Leben wirklich zählt!

Das waren in meinem Fall nicht unbedingt berufliche Erfolge oder die vielen Reisen, auch wenn sie mich mit Freude und Stolz erfüllen. Für mich war es geradezu lebenswichtig, dass meine japanisch-österreichische Familie beide Kulturen zu ihrem Recht kommen ließ. Von überragender Bedeutung waren deshalb familiäre Traditionen, die ich offensichtlich ganz gezielt als Gegengewicht zur japanischen Umgebung einsetzte und förderte, obwohl mir das damals gar nicht voll bewusst war. Ich hatte immer schon das Gefühl, dass unsere Familienfeste (Fasching, Weihnachten, Geburtstage,...) etwas Besonderes waren, aber wie besonders wurde mir erst klar, als ich Seite um Seite mit Beschreibungen und Fotos davon füllte. Die Kreativität, mit der wir sie gestaltet haben, hat auch meine Lehrtätigkeit enorm beeinflusst und zieht sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben. Seit mir das in dieser Klarheit bewusst ist, kann ich auch viel besser damit umgehen, dass mit dem Alter viele Veränderungen kommen. Manche Sportarten gehen nicht mehr wie früher, weite Reisen derzeit auch nicht. Aber wenn ich sehe, wie meine Kinder diese Traditionen übernehmen und ihr eigenes daraus machen, ist mein Lebenstraum erfüllt.

Lernt man auch weniger positive Dinge und Lebensumstände besser einzuschätzen?

Oh ja, auch die konnte ich durch das Schreiben aufarbeiten, sie von mir ablösen und meinen Frieden damit schließen. Das vermutlich Wichtigste war, dass mir klar wurde, dass es selbst in einem Leben, das man im Rückblick als erfüllt und glücklich beurteilt, auch Schwierigkeiten und teilweise sehr große Herausforderungen gegeben hat. Aber alle Situationen haben sich in irgendeiner Form und durch mein Zutun positiv aufgelöst. Mir ist klar geworden, welche Methoden ich einsetze, um mit Problemen fertig zu werden und dass ich darauf vertrauen kann. Das hilft mir auch heute mit aktuellen Herausforderungen klar zu kommen. Zu wissen, dass es auf die eine oder andere Weise immer gut weiter geht, gibt ein unglaubliches Gefühl von Sicherheit.

Und schließlich ist durch das Niederschreiben der vielen schönen Erlebnisse meine Dankbarkeit enorm gestiegen. Ich trage so viele schöne Erinnerungen in mir.

Wie bist Du es praktisch angegangen?

Ich habe drei Bereiche gewählt. Der erste Abschnitt meiner Memoiren handelt von unserer Familie und geht zurück bis ins 19. Jahrhundert. Es ging mir darum das Leben unserer Großeltern und Eltern wiederzugeben und in das soziale Umfeld von damals einzuordnen, damit dieser österreichische Teil der Familie für meine eigenen Kinder und Enkel in Japan zugänglich ist. Dabei habe ich selber erstaunlich viel über unsere Eltern erfahren und sie besser verstehen gelernt. Sie haben zwei Weltkriege und die Zeit der Depression in ihrer Jugend miterlebt und trotzdem danach so viel aufgebaut und uns mitgegeben. Es ist über ihre Vergangenheit selten gesprochen worden, und dennoch hat alles, was sie erlebt haben, uns mitgeprägt. Was mich an diesem Teil so fasziniert hat, ist, dass ich vieles von ihnen in mir erkenne und trotzdem meinen eigenen Weg gegangen bin.

Die Kapitel über meine Kindheit und Jugend waren mehr oder weniger von Nostalgie geprägt, wobei ich versucht habe, den Lebensstil der damaligen Zeit miteinzubeziehen. Ein Leben ohne Plastik, ohne Flugreisen, ohne Computer kann man sich ja heutzutage kaum mehr vorstellen.

Am Spannendsten war es mein Erwachsenenleben zu beschreiben, Die Briefe, in denen ich den Eltern mein Leben in Japan beschrieben habe, haben mich berührt, als wäre ich in eine Zeitmaschine geraten. Das war wirklich ich selber; so habe ich damals gedacht; das war mir damals wichtig genug, es schriftlich festzuhalten. Erstaunlicherweise habe ich bemerkt, dass ich mich problemlos mit meinem jüngeren Selbst identifizieren konnte. Meine Einstellung gegenüber vielen Dingen hatte sich nicht grundlegend verändert, ich habe nur dazugelernt. Diese Texte haben längst vergessen geglaubte Einzelheiten wieder wachgerufen. Sofort war alles wieder da, Bilder, Gefühle, selbst Töne oder Gerüche, so unmittelbar als hätte ich es erst gestern erlebt. Viele Male hatte ich beim Lesen den Eindruck, einen Film vor meinem inneren Auge ablaufen zu sehen.

Durch das Auswählen und Niederschreiben hat sich meine Motivation nach und nach weg von der einfachen Nacherzählung der Vergangenheit zu einer Art Selbstfindung verschoben. Es ging mir immer mehr um den Stellenwert, den gewisse Erlebnisse in meinem Leben hatten. Wo habe ich bewusst oder unbewusst Weichen gestellt? Warum bedeutete das Eine so viel und das Andere so wenig? Welche Mechanismen nützten mir in welchen Situationen?

Was würdest Du jemandem raten, der jetzt Lust bekommen hat, seine Memoiren zu schreiben? Wo soll man beginnen? Wohin führt es?

Memoiren zu schreiben ist ein Prozess, auf den man sich einlassen muss. Es fließt viel Zeit hinein, aber Zeit, die einem selber voll und ganz zugutekommt. Wichtig ist auch der Austausch mit anderen – so wie wir beide das gemacht haben - das schärft nochmal den Blick. Damit der Umfang nicht so überwältigend groß erscheint, kann man natürlich auch bei einzelnen Abschnitten anfangen, die einem, aus welchem Grund auch immer, leichtfallen oder wichtig sind. Und sollte man wirklich auf Themen stoßen, die einem schwerfallen, etwa jemandem zu vergeben, dann ist das ein guter Anlass sich Hilfe zu suchen und es wirkt befreiend.

Die Arbeit an meinen Memoiren ist noch nicht abgeschlossen, aber schon jetzt weiß ich, dass sie mir einen Weg in meine tiefste Seele geöffnet hat, den ich sonst nicht gefunden hätte.

Liebe Daya, ich danke Dir für Deine Einblicke und auch dafür, dass Du den ersten Teil meiner Memoiren, nämlich jenen über unsere Familie, bereits geschrieben hast. Die beiden anderen Teile – Kindheit/Jugend und mein Erwachsenenalter – stehen nun durch Deine Anregungen fix auch auf meiner Job-im-Alter Liste.

JEDER LEBENSRÜCKBLICK IST SPANNEND UND WERTVOLL

Vielleicht ist es einfacher, wenn man auf schriftliche Dokumente wie Briefe und Tagebücher zurückgreifen kann, aber ich bin sicher, dass Fotos oder Filme, Erinnerungen, Gespräche oder einfach nur der Fokus auf bestimmte Ereignisse im Leben ebenfalls sehr gute Reflexionen ermöglichen, Und vielleicht war das Leben von Daya in Japan außergewöhnlich, aber ist nicht jedes Leben außergewöhnlich und einzigartig? Und damit wert betrachtet zu werden?

Herzlichst
Helga

[i] Geneviève Grimm-Montel: Funktionen des Erinnerns im erzählten Lebensrückblick älterer Menschen. Narrative Selbstdarstellung und Integration autobiografischer Erfahrungen. Dissertation an der Universität Zürich (2012) https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/76278/1/Grimm-Dissertation.pdf